EINLEITUNG

Sie lieben die Arbeit mit der Stimme,
arbeiten beim Radio oder für’s Fernsehen, suchen als Schauspieler ein zweites berufliches Standbein oder haben vielleicht einfach nur Freude am Vorlesen. Oder Sie sitzen auf der anderen Seite der Studioscheibe in der Regie und möchten als Redakteur, Producer, Autor, Regisseur oder Kunde Sprechleistungen besser beurteilen können.

Woher auch immer Sie kommen und was auch immer Ihre Motivation ist – ich freue mich, die Leidenschaft für das Sprechen mit Ihnen zu teilen und Ihnen die Geheimnisse hinter packend gesprochenen Texten zu verraten.

Professionelles Sprechen heute
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Hör- und Sprechverhalten bei Funk, TV und den neuen Medien stark verändert. Die explosionsartige Vermehrung von Privatsendern in den letzten Jahrzehnten, der ständig wachsende Bedarf an Sendeformaten, der Produktionsdruck schnell und billig zu produzieren - all das geht oft zu Lasten der Qualität von Wortproduktionen. Die Klarheit der Gedankenführung, die Wahrhaftigkeit und Authentizität beim Sprechen, die Angemessenheit beim Textvortrag bleiben deshalb häufig auf der Strecke. Im munteren Plauderton wird im selben Duktus vom Wetter berichtet wie von erschütternden Katastrophen.

„Sie haben eine schöne Stimme. Warum werden Sie nicht Sprecher?“ hört man oft. Die Stimme ist aber nur das Instrument, nicht die Tätigkeit.

Lesen versus Sprechen
Texte vorzulesen, ist etwas anderes, als Texte zu sprechen. Sprechen bedeutet, einen Text zu inszenieren, sich zu fragen: Wer spricht hier eigentlich? Wo, zu wem und warum?

Man kann sich das akustisch leere Universum des Mikrofonsprechens wie eine leere schwarze Bühne vorstellen. Allein mit der Stimme kann in diesem Universum alles dargestellt werden: jede Figur, jeder Raum, jedes Gefühl, jede Atmosphäre bis hin zu atemloser Spannung. Die einzige Beschränkung beim Erschaffen dieser Szenerien ist die eigene Fantasie.

Dieser grenzenlosen Gestaltungsfreiheit steht jedoch die Forderung nach seismographischer Präzision gegenüber. Denn mit der Stimme kann man nicht lügen, jeder Gedanke, jede Emotion ist wahrnehmbar. Der Körper lügt nicht. Sei es die Mimik eines Schauspielers in Großaufnahme oder der Stimmklang beim Sprechen - alle Gedanken und Gefühle werden unmittelbar ausgedrückt und miterlebt.

Mikrofonsprechen ist so ähnlich wie Schauspiel in der Greenbox. Wir stellen uns vor, dass wir zu jemandem sprechen, jetzt, in diesem Moment. In der Realität stehen wir als Sprecher oder Sprecherin in einem Studio mit einem Blatt Papier vor einem Mikrofon. Und wenn wir diese Realität inszenieren, klingt unsere Stimme auch genau so: Jemand steht allein in einem Raum mit einem Blatt Papier vor einem Mikrofon und liest etwas ab. Natürlich hat auch Vorlesen seine Berechtigung und Schönheit. Doch die Inszenierung der realen Studio Situation bleibt vergleichsweise linear und vorhersehbar.

Jeder geschriebene Text war vorher ein Dialog, eine Szene im Kopf des Autors, der Autorin. Immer wenn wir sprechen, sprechen wir zu jemandem. Und dieser Jemand ist irgendwo im Raum. Und immer wenn wir sprechen, wollen wir, dass danach etwas anders ist, sonst würden wir nicht sprechen. In diesem Sinn kann man sagen: Sprechen ist Bitten.

Mikrofonsprechen ist Film -
reduziert auf die akustische Dimension

Texte vor dem Mikrofon zu sprechen bedeutet, mit Körper, Stimme, Gedanken und Gefühlen gleichzeitig Instrument, Spieler des Instrumentes und Dirigent beziehungsweise Regisseur zu sein. Das ist eine komplexe Angelegenheit; eine Tätigkeit, die Fleiß, Präzision, Hingabe und Leidenschaft erfordert und Spaß macht.

Genau hier setzt das neue kreative Handwerk des Mikrofonsprechens an. Um einen geschriebenen Text mit der richtigen Stimme zu sprechen, ihn ins lebendige, emotionale JETZT zu katapultieren, schlüpfen wir aus dem Kostüm unserer Alltagsidentität in das Gedanken- und Gefühlskostüm des Autors, der Autorin oder auch einer Spielfigur in fiktionalen Texten. Wir wagen uns auf die leere schwarze Bühne des Mikrofonuniversums. Der Lautsprecher ist die Kinoleinwand, der magische Ort, an dem Autor, Sprecher und ein unbekannter Hörer sich begegnen - irgendwo, irgendwann da draußen in der Welt.

Wie arbeiten Sie am besten mit diesem Buch?

In Praxisteil 1 und 2 finden Sie die beiden wichtigsten Kapitel zum professionellen Sprechen: die Notation für die strukturelle Texterarbeitung sowie die Basics zu Sprech- und Atemtechnik. Am besten bearbeiten Sie zunächst diese beiden Kapitel sehr gründlich und in aller Ruhe.

Die Kapitel zu den Praxisteilen 3, 4 und 5 beziehen sich auf die Inszenierung von Texten. Das Ziel sind differenzierte Stimmsounds, die Ihnen helfen, Texte szenisch lebendig werden zu lassen, Atmosphären zu zaubern oder Spielcharakteren bei Fiction Kontur zu verleihen.

Sie finden in allen Praxisteilen die ausführliche Erklärung zum jeweiligen Thema mit Beispieltexten zum Üben und den entsprechenden Hörproben.

Die zwei unterschiedlichen Sparten des professionellen Sprechens

1. Die journalistisch informativen Sendeformate

Zu den journalistisch informativen Sendeformaten gehören Nachrichten, Presseschau, Funk Feature, Programmhinweise, E-Learning, Podcast und Audioguides für Museen oder Stadtführungen. Darüber hinaus gibt es die zahlreichen Sendeformate, die auf Timecode gesprochen werden, wie beispielsweise Werbespots oder Sendetrailer bei Funk und TV oder Dokumentar- und Imagefilme.

Bei all diesen Sendeformaten gibt es eine klare Erwartung, wie die gesprochenen Texte klingen sollen. Ein Nachrichtensprecher hört sich anders an als ein Moderator oder ein Sprecher für Funk Features. Szenisch ähneln viele dieser Formate einer Vortrags- oder Unterrichtssituation. Die Hörerwartung ist ein mit Kompetenz und Klarheit vorgetragener Text, der sich an die Allgemeinheit oder eine am Thema interessierte Zuhörerschaft richtet.

Diese vorproduzierten - also nicht live gesendeten - Sprachaufnahmen werden meist nur vom Kunden, Autor, Producer oder einem Tontechniker begleitet. Personen in dieser Funktion haben zwar eine Vorstellung davon, wie der gesprochene Text klingen soll, wissen aber meist nicht, mit welchen Worten sie dieses innere Hörbild vermitteln können. Der Sprecher muss in solchen Situationen unterschiedliche Inszenierungen anbieten und die diversen Hörerwartungen passend zum Thema und Sendeformat abrufen können.

2. Der große Bereich der fiktionalen Formate

Zu den fiktionalen Formaten gehören Synchron, Computerspiele, Hörspiele, Hörbücher, aber auch Live-Lesungen. Bei diesen Sendeformaten geht es vor allem darum, Emotionen darzustellen und unterschiedliche Atmosphären erfahrbar zu machen.

Bei Computerspielen und Synchron ist die Inszenierung schon vorgegeben. Hier besteht die Herausforderung darin, in sehr kurzer Zeit die Emotionen des jeweiligen Rollencharakters zu erfassen und wie auf Knopfdruck abrufen und darstellen zu können. Zusätzlich muss bei den Dialogtexten für Synchron oder Computerspiele die Sprechgeschwindigkeit präzise dem Tempo der Vorlage angepasst werden. Insbesondere für Synchron bedeutet das ein erhöhtes Sprechtempo, da im Deutschen fast immer mehr Worte benötigt werden als beispielsweise im englischen Original-Dialog.

Sprachaufnahmen für Synchron, Computer- oder Hörspiele werden in der Regel von einem Regisseur begleitet, der dem Sprecher Anweisungen erteilt und die künstlerische Verantwortung trägt.

Hörbuch-Aufnahmen werden aus Kostengründen oft ohne Fachregie aufgenommen. Hier ist der Gestaltungsspielraum für Sprecher groß und die qualitativen Unterschiede sind teilweise erheblich.

Für E-Learning oder Videobeiträge zu wissenschaftlichen oder Sachthemen ist meist der Autor oder nur der Tontechniker Ihr Ansprechpartner bei den Aufnahmen.

Bei Werbespots geben Producer, Art Director und Kunde dem Sprecher (manchmal auch widersprüchliche) Anweisungen, bis der Auftraggeber zufrieden ist. Hier braucht der Sprecher Geduld, Spiellust und Experimentierfreude.


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